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Aus: Bayerischer Realschullehrerverband / Verbandszeitschrift 03/04 2004 [pdf]

Zur Diskussion nach PISA
Von Finnland lernen?

Interview mit Thelma von Freymann

Thelma von Freymann gilt als eine ausgezeichnete Kennerin des finnischen Schulwesens. Sie war lange Zeit als akad. Oberrätin am Institut für angewandte Erziehungswissenschaften und Didaktik der Universität Hildesheim tätig und hat sich in Publikationen und Vorträgen mit dem Schulsystem des PISA-Siegerlandes gründlich und auch kritisch auseinander gesetzt. Worauf sind dessen Spitzenergebnisse im PISA-Test zurückzuführen? Könnte man in Deutschland etwas übernehmen? Das Interview des Bayerischer Realschullehrerverbandes - brlv - ist ein weiterer Beitrag zur PISA-Diskussion.

brlv: Sie sind über das finnische Schulwesen sehr gut informiert. Woher haben Sie diese Kenntnisse?

v. Freymann: Erstens bin ich gebürtige Finnländerin und habe einen Teil meiner Schulzeit in Finnland verbracht. Zweitens erhielt ich 1997 einen Auftrag von der Zeitschrift für internationale erziehungs-und sozialwissenschaftliche Forschung für eine umfassende Darstellung des finnischen Schulwesens, was mich zu einer gründlichen Recherche, verbunden mit einer Reihe von Schulbesuchen, veranlasste. Drittens bekam ich nach der Publikation der PISA-Resultate einen gewaltigen Zornesanfall ob der völlig ungerechten Darstellung in der deutschen Presse. Ich habe mich privat ohne Auftrag noch einmal in finnische Schulen be-geben, um den gegenwärtigen Stand der Dinge zu erfahren, und habe dann angefangen, gegen die falschen Legenden in der deutschen Presse anzugehen.

brlv: Was wurde in der Presse falschdargestellt?

v. Freymann: An der Berichterstattungzu PISA hat mich die Behauptung gestört,das gegliederte Schulwesen sei der Gesamtschule unterlegen und deutsche Lehrer könnten mit heterogenen Klassen nicht umgehen. Die finnischen Gesamtschulen lassen sich mit dem deutschen Schulsystem hier nicht vergleichen, zum einen wegen der Größe und zum anderen wegen des Fehlens einer vergleich baren Heterogenität der Schülerschaft in Finnland. Nur 3 % der finnischen Schulen haben über 500 Schüler. Finnland hat außerdem mit nur 2 % einen sehr geringen Ausländeranteil in seiner Bevölkerung.
brlv: Wie funktioniert Schule in Finnland? Können Sie wesentliche Gesichtspunkte nennen?

v. Freymann: Ein finnisches Kollegium ist ein multikompetentes Team. Während i nDeutschland nur Lehrkräfte, Sekretärin und Hausmeister an den Schulen tätig sind, gibt es in Finnland darüber hinaus eine Schulgesundheitsfürsorgerin – das Berufsbild existiert in Deutschland nicht–, dazu Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter, sog. Kuratoren, und Lehrkräfte mit Spezialausbildung für die Förderung der schwachen Schüler. Außerdem gibt es täglich ein warmes Mittagessen für alle.

brlv: Wo sehen Sie die Hauptursachen für den Erfolg Finnlands bei PISA?

v. Freymann: Die Gesellschaft sorgt über die Institution der Schule für das Wohl derjenigen Kinder, deren Eltern dies nicht im richtigen Ausmaß tun. Gerade die sozial Schwachen werden auf diese Weise zum Optimum ihrer Leistungsfähigkeit geführt.

brlv: Können Sie uns etwas über die Lehrerbildung in Finnland sagen?

v. Freymann: Die Lehrerbildung geschieht nach dem „Schichttortenprinzip“. Theorie und Praxis werden laufend aufeinander bezogen. Es gibt eigene Universitätsschulen. Die Ausbildungdauert mindestens fünf Jahre. Es folgt aber keine Referendarzeit. Es gibt im Übrigen sehr viel mehr Bewerber als Studienplätze für alle Lehrämter. Darum bekommt nur der einen Platz, der ein strenges Auswahlverfahren besteht.

brlv: Die deutsche Kultusministerkonferenz startet eine Werbekampagne für den Lehrberuf, weil Nachwuchs fehlt. Warum ist dies in Finnland nicht notwendig?

v. Freymann: In Finnland wird man gern Lehrer, obwohl das Gehalt niedriger ist. Das liegt daran, dass die Schule ein wunderschöner und befriedigender Arbeitsplatz ist. Der Lehrberuf hat ein hohes gesellschaftliches Ansehen.

brlv: Wie werden die Leistungsstandards gesichert bei der in Finnland bestehenden Autonomie der einzelnen Schule?

v. Freymann: Die Schulen werden durch Evaluation überprüft. Es gibt eine zentrale Abiturprüfung, allerdings keine Prüfung am Ende der Pflichtschulzeit nach der 9. Klasse. Im wesentlichen liegt die Verantwortung bei den Schulen selbst und die nehmen sie sehr ernst. Lehrer, die nicht gut arbeiten, müssen mit ihrer Entlassung rechnen. Die Diskussion um die Einführung einer Abschlussprüfung nach der 9.Klasse läuft derzeit. Die Schulen befürworten sie nicht, aber die Gesellschaft, vor allem die Wirtschaft fordert diese Prüfung.

brlv: Kann Deutschland vom finnischen Schulsystem etwas übernehmen?

v. Freymann: Ja, in erster Linie für die Grundschulen das System der Speziallehrer für die schwächeren Schüler. Für die Hauptschulen und auch für die Realschulen sollten Sozialarbeiter bereitgestellt werden. Nur dann können sich die Lehrkräfte ihrer eigentlichen Aufgabe widmen, der Klasse als ganzes einen effektiven Unterricht zu geben.

brlv: Zum Schluss: Worin liegen Ihrer Meinung nach Vorzüge des deutschen Schulsystems?

v. Freymann: Ich halte von der Differenzierung im deutschen Schulsystemsehr viel. In einem dicht besiedelten Land wie Deutschland ist das gegliederte Schulsystem angemessen. Es hat beste Voraussetzung zur Förderung der Schüler. Voraussetzung ist, dass die Schulen personell entsprechend ausgestattet sind. Die Durchlässigkeit im deutschen Schulsystem ist besser als es in der Öffentlichkeit anerkannt wird. Es ist nichtwahr, dass das deutsche Schulsystem als System daran hindert, weiterzukommen. Ein zweiter Vorzug ist die breite Allgemeinbildung. Ein finnisches Abitur ist kein deutsches Abitur. In Finnland kann man in Englisch ein Abitur bestehen, ohne eine einziges Drama von Shakespeare gelesen zu haben. Es wird nämlich gar nicht angeboten. Es gibt dort auch Oberstufenschulen ohne einen einzigen Kurs in Literaturgeschichte. In vielen deutschen Bundesländern werden dagegen im Abitur nicht nur pragmatische Kenntnisse vorausgesetzt, sondern es wird an den Schulen auch das kulturelle Erbe vermittelt und geprüft.

brlv: Frau von Freymann, wir danken herzlich für das Gespräch.

Das Interview führte brlv-Pressereferentin Christa Nicklas.


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