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Aus: Bayerischer Realschullehrerverband / Verbandszeitschrift 03/04 2004 [pdf]

"... und was tun Sie für die Begabten?"
Zur Kehrseite der finnischen Medaille.

Von Thelma von Freymann

I

Die PISA-Ergebnisse haben dazu geführt, dass das finnische Schulwesen hierzulande unter einer einzigen Leitfrage betrachtet worden ist, nämlich: „Was machen die Finnen so gut?“ Und die Folgefrage lautete: „Was können wir von ihnen lernen? Wie könnten wir es mutatis mutandis so machen wie sie?“ Ein Beitrag zu der Frage, ob es auch Dinge gibt, die sie gar nicht besonders gut machen, und ob wir von ihnen auch lernen könnten, wie man es nicht machen sollte – ein solcher Beitrag wäre im Jahre 2002 von den meisten Zeitschriftenredaktionen wohl als vollkommen abwegig zurück gewiesen worden.

Inzwischen haben sich die Schwaden der öffentlichen Aufregung soweit verzogen, dass eine besonnenere Betrachtung Raum greifen kann. Da die Berufung auf die nordischen Länder in der bildungspolitischen Diskussion nach wie vor als Argument dient, ist es an der Zeit, finnische Schulen nicht nur affirmativ, sondern auch kritisch ins Auge zu fassen.

Zunächst noch einmal der Tatbestand: Was war an den finnischen PISA-Ergebnissen so bemerkenswert? Es war nicht nur der erzielte „Weltmeisterpunktwert“: im Lesetest 546 (bei einem OECD-Durchschnitt von 500). Es war darüber hinaus die extrem niedrige Streuung: Standardabweichung 89 (bei OECD-Durchschnitt 100). Die entsprechenden deutschen Werte betragen 484 und 111. Gleichzeitig verläuft der „soziale Gradient“ (der die Korrelation zwischen erzieltem Punktwert und sozialem Hintergrund des Probanden darstellt) für Finnland besonders flach, für Deutschland besonders steil (Abbildung PISA-Studie S.388). Von den finnischen Probanden bleiben nur 2 % unter und nur 5 % auf der Lesekompetenzstufe I (Skala I–V). Diese sogenannte Risikogruppe beträgt also ganze 7 %. In Deutschland lauten die entsprechenden Zahlen 10 % und 12,7 %, in summa 22,7 %!

Mit wahrhaft staunenswerter Effektivität haben die Finnen also die schwachen Schüler auf das Optimum ihrer Leistungsmöglichkeit gebracht. Die Ausbildung finnischer Lehrkräfte schärft ihnen ein, dass die Qualität ihrer Arbeit daran gemessen werden wird, wie weit es ihnen gelingt, alle „mitzunehmen“, und für die gut 16 % der schwächeren Schüler gibt es obendrein die Speziallehrer. Wie die Finnen die Förderung der Schwachen sichern, habe ich in zahlreichen anderswo erschienenen Beiträgen ausführlich dargelegt.

Die „Gegenfrage“ hat bisher niemand gestellt: Was tun die Finnen für die Förderung der Begabten? Die PISA-Ergebnisse lassen nicht erwarten, dass an dieser Stelle ebenso brisante Erkenntnisse zu gewinnen wären wie bei der Förderung der Schwachen. Jedoch: Diese Erkenntnisse sind um nichts weniger interessant. Nur folgen sie dem umgekehrten Muster: Wie man es in Deutschland entweder nicht machen kann oder nicht machen sollte,lässt sich mit verblüffender Klarheit aus den finnischen Erfahrungen ableiten.

II

Auf die Frage, welche Fördermöglichkeiten das finnische Schulsystem für begabte Schüler vorsieht, erhielt ich im Zentralamt für Unterrichtswesen die Antwort,die zu erwarten war: „Für die haben wir die Schulen mit Sonderprofil.“ Das ist wahr, und wahr ist auch, dass diese auf einem außerordentlich eindrucksvollen Niveau arbeiten. Selbstverständlich kann ich auf Grund von ein paar Hospitationen nichts darüber aussagen, ob das für alle zutrifft bzw. wie hoch der Anteil wirklich hochkarätigen Unterrichts am Gesamtangebot dieser Schulen ist. Aber dass es solchen gibt, habe ich gesehen. Als Beispiel sei eine Lerngruppe von zehn Kindern im vierten Schuljahr angeführt. Sie (bzw. ihre Eltern) hatten im dritten Schuljahr nicht Englisch gewählt, sondern Französisch. Für Kinder finnischer Muttersprache sind alle indo-germanischen Sprachen schwer, sogar die andere Landessprache (Schwedisch). Französisch aber bietet für ihre Ohren den phonetischen Aberwitz schlechthin. Da saßen nun also diese 10-Jährigen und lernten schon im zweiten Jahr Französisch. Diese Chance hätten sie in keiner deutschen Schule. Aber damit nicht genug. Hier wurde nicht „spielerisch gelernt“. Was ich sah, war eine richtige Grammatikstunde, es ging um strukturelle Unterschiede zwischen dem Finnischen (das z.B. kein grammatisches Geschlecht und keine Artikel kennt) und dem Französischen. Syönomenan heißt „Ich esse den bzw. einenApfel“. Das Subjekt steckt im Prädikat, das Akkusativobjekt trägt keinen Artikel. Wie kommt man von Syön omenan zu Jemange la pomme? Nein, man lernt eben NICHT einfach auswendig, dass das haltso heißt. Auswendig lernt man z.B. Liedertexte. Aber wenn es darum geht, sich eine fremde Sprache bewusst anzueignen, dann denkt man darüber nach, worin sie sich von der eigenen unterscheidet. DieseZehnjährigen konnten das (wenn auch selbstverständlich nicht unter Verwendung der Fachausdrücke, mit denen ich das hier verkürzt wiedergebe). Sie waren nicht überfordert. Sie waren voll dabei. Unnötig zu sagen, dass man solchen Französischunterricht niemals mit einer unausgelesenen Jahrgangsklasse machenkönnte. Es ist in Finnland vollkommen normal, dass Schulen, die Linien mit erhöhtem Anspruch anbieten, sei es für Sport, Musik, Kunst, Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften oder was auch immer, Kinder in solche Linien nur auf Grund einer Eignungsprüfung aufnehmen. Diese findet meist im Februar statt, das Schuljahr beginnt im August. „Sonderlinien“ können mit dem 1. (selten), dem 3. (häufiger) oder dem 7.Schuljahr (oft) anfangen, letzteres also beim Übergang von der sechsjährigen Grundstufe in die dreijährige „Oberstufe“ (Kl. 7–9). In Ballungsgebieten oder größeren Städten, wo die Schulkataloge umfangreich sind (sie gehen den Eltern „betroffener“ Schülerjahrgänge auto-matisch und kostenlos zu), findet ein begabtes finnisches Kind Möglichkeiten,die es in Deutschland weder gibt noch – Schulreform hin, Schulreform her – geben wird. Oder kann sich irgendjemand vorstellen, dass ein deutscher Kultusminister auch nur ein paar Ausnahmeschulen gestatten würde, für Kinder im 2. Schuljahr „Eignungsprüfungen“ abzuhalten, deren Ergebnis darüber entschiede, ob sie vom folgenden Herbst an eine Klasse mit erhöhtem Anspruchsniveau besuchen dürften? Schon mit dem bloßen Vorschlag beginge er politischen Selbstmord.

Soviel zu den Schulen mit Sonderprofil. Aus deutscher Sicht sind sie fast zu schön, um wahr zu sein. Jedoch: Wo gibt es sie denn? Nur dort, wo die Schülerpopulation für mehrere Schulen ausreicht. Im ganzen großen dünn besiedelten Binnenland gibt es sie nicht. Alle Schüler im Einzugsgebiet einer Schule gehen dort auf eben diese, Auswahl haben sie keine. Schulwege von 30 km und mehr sind normal. Wer aus Hinter-den-sieben-Seen auf eine Schule mit Sonderprofil will, muss in Kauf nehmen, während der Woche am Schulort zu wohnen. Da es in derRegion Helsinki ein besonders vielfältiges Angebot gibt (z. B. die Sibelius-Schule für Musikalische und die berühmte Eishockey-Schule für Sportliche; ihr stellt die Zubehörindustrie eine Trainingshalle mit Eisbahn sowie alles Nötige bis zum letzten Knieschützer zur Verfügung), ist auch der Andrang von außerhalb beträchtlich. Laut Auskunft des Zentralamtes sind Schüler, die nur zum Wochenende nach Hause fahren können, keine Einzelfälle. Und das wundert einen nicht im mindesten, wenn man erfährt, wie es in Schulen ohne „Sonderprofil mit erhöhten Leis-tungsanforderungen“ zugeht.

III

Wo immer ich in einer „ganz gewöhnlichen“ Schule fragte: „Und was tun Sie für die Lernstarken? Mit welchen Verfahren fordern und fördern Sie die?“, reagierten die Lehrkräfte mit so etwas wie verlegener Überraschung, ja, manchem schien die Frage geradezu peinlich zu sein. Ich bekam das Gefühl, dass es taktlos war, sie zu stellen. Niemandem schien überhaupt jemals in den Sinn gekommen zu sein, dass auch die Förderung der Begabten zu den grundlegen-den Aufgaben einer Lehrkraft in den neun Jahren der Pflichtschulzeit gehören könnte. Ein in der Lehrerausbildung tätiger Professor bestätigte mir denn auch,dass das Bewusstsein, nicht nur den Schwachen, sondern auch den Begabten optimale Förderung zu schulden, im Pädagogikstudium der gegenwärtig im Amt befindlichen Lehrergeneration nicht vermittelt worden sei. Wie sich das im Schulalltag auswirkt, sei mit Beispielen beleuchtet:

1. Ich frage in Schulen danach, wie viel Hausaufgaben es gibt. Die Antwort ist mit geringen Varianten immer dieselbe: „Das kann ich als Rektor so allgemein nicht sagen, das liegt im Ermessen der Lehrkräfte und dürfte recht verschieden sein.“ Eine Mutter von drei Töchtern (sie macht in meinem Hotel die Buchhaltung, pädagogische Reflexion ist ihr Metier nicht) erklärt mir auf Befragen, ihre Kinder machten keine Schularbeiten. Niemals. Auch nicht in der „Oberstufe“. Wie das? Nun, der Unterricht wird grundsätzlich so angelegt, dass die Schüler im letzten Teil der Stunde mit den Aufgaben anfangen. Die Schwächeren müssen ja Gelegenheit haben zu fragen, wenn sie nicht zurechtkommen, sonst könnten sie zu Hause nicht allein weiterarbeiten. Diejenigen, die schnell begreifen und keine Hilfe brauchen, werden in dieser Zeit mit den Aufgaben immer schon fertig. „Wie?“ hake ich nach. „Die Lehrerinmuss doch wissen, dass das so ist. Wieso gibt sie den Schnellen nicht anspruchsvollere Aufgaben, zusätzliche Lektüre, irgendetwas anderes auf? Es kann doch nicht sein, dass sie nach der Schule einfach gar nichts zu tun brauchen, während die Schwächeren über ihren Hausaufgaben sitzen?“ Die Frau ist verblüfft. Auf die Idee, dass diese Praxis allen Unrecht tut, den Starken wie den Schwachen, wenngleich auf unterschiedliche Weise, ist sie nie gekommen.

Selbstverständlich: Auch in Deutschland gibt es in jeder Klasse die Schnelleren und die Langsameren. Jedoch ist der Unterschied innerhalb einer Klasse im dreigliedrigen System bei weitem nicht so groß wie in einer finnischen Schule, die nur Wahlkursangebote führt, aber keine auslesewirksamen „Linien“.

2. Von offenkundig begabten jungen Menschen, die in ganz verschiedenen Gegenden zur Schule gegangen sind, höre ich im Prinzip immer dasselbe: Keiner von ihnen hat erlebt, dass Lehrkräfte sich denen besonders zugewandt hätten, die keine Schwierigkeiten hatten, und für sie Gelegenheiten geschaffen hätten, sich an anspruchsvolleren Aufgaben zu bewähren und zu entwickeln. Eine der Befragten, eine ungewöhnlich lernbegierige und -fähige Abiturientin des Jahrgangs 2001, der vom Elternhaus keinerlei intellektuelle Unterstützung zuteil wurde, er-klärt ausdrücklich, von ganz wenigen einzelnen Lehrkräften abgesehen, erfülle sie die Erinnerung an ihre Schulzeit mit Frustration, Bitterkeit und schierer Wut. Niemand hat ihre Bedürfnisse auch nur wahrgenommen, geschweige denn befriedigt.

3. Ich erzähle gesprächsweise von der niedersächsischen Orientierungsstufe. „Wie? Da sind die Klassen zwar unausgelesen, aber in Englisch und Mathematik werden die Schüler in Niveaukurse einsortiert?“ Ich bestätige dies. Mein Gesprächspartner kann es schier nicht glauben. „Das ginge hier einfach nicht!“ „Wie, ginge nicht?“ „Na, da würden die C-Kursler denen, die in höhere Kurse eingestuft sind, das Leben solange zur Hölle machen, bis die freiwillig schlechte Arbeiten schrieben und zurückgestuft würden!“ Dass er das für vollkommen selbstverständlich hält, wirft ein Schlaglicht auf das Klima in der finnischen Schulwelt, selbst dann, wenn es in einzelnen Schulen durchaus anders zugehen mag.

4. Ein Mädchen, dessen Mutter Autorin ist (u. a. von Jugendbüchern) und das deshalb zum Schreiben eine andere Beziehung hat als Schüler insgemein, schreibt einen Aufsatz, der „nicht ins Raster passt“. Er ist eigenständig und zeugt davon, dass diese Schülerin beginnt, als „sie selbst“ zu schreiben, statt sich nach gängigen Mustern zu richten. Dafür bekommt sie nicht nur keine gute Note. Obendrein setzt die Lehrerin sie auch herab und beschämt sie mit den Worten: „Ich weiß wirklich nicht, was ich damit anfangen soll. Was bildest du dir eigentlich ein, was du bist?!“ Der Mut der sensiblen Vierzehnjährigen, sich als Person in ihre Texte einzubringen, und ihre Freude am Schreiben sind für lange Zeit blockiert.

Diese Lehrerin hätte vermutlich kein Kind beschämt, das einen Routinetext mit zahlreichen Fehlern lieferte. Dass man schwache Schüler niemals bloßstellen darf, geht finnischen Lehrkräften im Laufe ihrer Ausbildung sozusagen in Fleisch und Blut über. „Anders“ zu sein ist erlaubt. Aber nur, wenn – ja, wenn „anders“ eben schwächer bedeutet. Dass ein Kind, das immer wieder Stunden bei der Speziallehrerin braucht, deswegen gehänselt würde, habe ich nie gehört. Heißt „anders“ aber in irgendeinem Sinne stärker, fähiger als die anderen, dann gelten andere Regeln. Es gibt zwei Gebiete, auf denen man besser sein darf als die anderen: Musik und Sport. Mobbing riskiert aber in einer durchschnittlichen finnischen Schule, wer in den eigentlichen Lernfächern glänzt, und dagegen scheint kein Kraut der Psychologen und Kuratoren gewachsen zu sein. Wer deutlich besser ist als andere, sollte sich eigentlich schämen, es gehört sich nicht – das ist die Botschaft, die schon aus vielen mehr oder minder subtilen Signalen hervorgeht, erst recht aber aus Lehrerbosheiten wie „Was glaubst du eigent-lich, was du bist?“

Es handelt sich dabei auch nicht etwa um eine Ausnahme. Eine ehemalige Lehrkraft,die aus dem Schuldienst ausgeschieden ist und sich als freiberufliche Schülerberaterin betätigt, versichert mir, dass sie laufend mit Fällen dieser Art zu tun hat.

IV

Es gibt in den nordischen Ländern eine Art Neidkultur, die Mitteleuropäer höchst befremdlich fänden, wenn sie sie denn wahrnehmen könnten (wozu ein hohes Maß an Sprachkompetenz nötig wäre). Die Schweden haben den schönen Ausdruck kungliga svenska avundsjukan geprägt – zu Deutsch „der königl. schwedische Neid“. Soviel Selbstironie haben die Finnen nicht aufgebracht. Ihr Neid heißt sprichwörtlich nicht „republikanisch“, sondern nur „finnisch“, nacktund ungeschminkt.

Nicht als gäbe es Neid nicht überall auf der Welt! Südlich der Ostsee gilt er aber als peinlich und unterliegt darum mehr oder minder effektiver Camouflage. In Finnland nicht. Dort wird er quasi legitimiert durch den zentralen Begriff tasaarvo (Aussprache: tassa-arwo).Dieser Terminus bezeichnet nicht nur ein wolkiges Ideal, sondern zugleich auch eine Art gesellschaftlicher Norm. Wörtlich übersetzt heißt er Gleichwert, und dieser Ausdruck existiert im Deutschen nicht. „Gleichheit vor dem Gesetz“ ist durchaus nicht dasselbe. Der finnische Begriff oszilliert auf eigentümliche Weise. Er enthält einerseits die Aussage, dass alle gleichen Wertes sind, andererseits den Anspruch, dass alle dies sein sollten (demnach also doch noch nicht sind), und was das konkret heißt, darf jeder selbst bestimmen.
Diese Tarnkappe von so überaus edlem Zuschnitt ist also nur notdürftig zusammengeheftet und lässt den Neid oft unverhohlen durch die Löcher scheinen. „Gut“ soll man natürlich sein, das schon (und ohne tüchtige Leute wäre der finnische Wohlstand ja auch gar nicht zu halten).Aber bitte nicht so gut, dass das andere ärgert. Nicht so viel besser als sie, dass das wirklich etwas ausmacht. To keep alow profile empfiehlt sich dringend, wenn einer erheblich mehr verdient als andere. Derjenige, der scheelen Blickes den begabteren, fleißigeren, tüchtigeren Kollegen, Mitbürger oder – eben auch! –Mitschüler belauert und ihm womöglich die Freude an seinem Erfolg zu vergällen sucht, braucht sich eigentlich nicht zu schämen (obwohl er es „offiziell“ natürlich sollte). Schämen sollte sich vielmehr derjenige, der daran Schuld ist, dass der andere Neid empfindet. Unterschwellig wirkt sich hier ein mentalgeschichtliches Erbe aus, dessen Wurzeln im Rahmen dieses Textes nicht einmal angedeutet werden können.

Diese Mentalität schlägt selbstverständlich auch in der Schule durch. Tasaarvo heißt für viele nicht einfach Gleichheit der Chancen. Ihnen schwebt vielmehr Gleichheit der Resultate vor. Als am 13.5.2002 die frischen Ergebnisse der alljährlichen Schulevaluation publiziert wurden und sich ein erhebliches Gefälle zwischen Schulen innerhalb je ein und derselben Region herausstellte (der durchschnittliche Punktwert der Schüler lag in manchen Schulen bei 40, in anderen bei 85; die Skala lief bis 100), erklärte Jukka Sarjala, damals noch Leiter des Zentralamtes für Unterrichtswesen, dies stehe geradezu im Widerspruch zum finnischen Grundgesetz! Es würde den hier gesetzten Rahmen sprengen, die Hintergründe einer derartigen Abstrusität aufzuhellen. Fest steht nur: Der oberste Chef des Schulwesens freute sich nicht darüber, dass es manchen Schulen gelungen war, Spitzenleistungen hervorzubringen. Er fand es vielmehr skandalös, dass sie so viel besser waren als manche andere.

So hat das Zentralamt denn auch schnell reagiert. Dem Niveaugefälle lag als Bedingung seiner Möglichkeit die Tatsache zugrunde, dass die Rahmenrichtlinien sehr viel Spielraum ließen. Manche Schulen nutzten ihn eben sehr effektiv. Dieser Spielraum wird demnächst eingeschränkt.In Schulen, die ein hohes Niveau erreicht hatten, habe ich in diesem Frühjahr gehört, dass man deswegen nun sehr besorgt sei. Jukka Sarjala wurde im Mai 2003 pensioniert. Aber dass die Nachfolgerin seine letzten Maßnahmen einfach außer Kraft setzt, ist kaum vorstellbar.

Dennoch: In diesem Jahre habe ich zum ersten Mal erlebt, dass hochrangige Gesprächspartner, denen gegenüber ich die Bemerkung riskierte, dass Finnland sich in Bezug auf die Begabten eine enorme Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen leistet, sinngemäß antworteten: „Ja, so ist es, und das darf nicht so bleiben.“ Die politische Wende nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fiel in Finnland auch nicht annähernd so schroff aus wie in Ostdeutschland (wo die Situation ja auch eine ganz andere gewesen war), und darum stellen sich auch die Folgen anders und sehr viel langsamer ein als hierzulande. Aber die Veränderung ist im Gange, und man darf auf die Entwicklung gespannt sein.

V

Was folgt aus alledem für Deutschland?

1. Was die Förderung der Schwachen betrifft, sollten wir uns an Personalschlüssel und procedere finnischer Schulen ein Beispiel nehmen. Das kann man nicht oft und nachdrücklich genug wiederholen.

2. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass das finnische Modell aber gänzlich ungeeignet ist, wo es darüber hinaus auch um die optimale Entwicklung der Lernstarken gehen soll. Ein Umbau des deutschen Schulwesens, bei dem einerseits flächendeckend Gesamtschulen, innerhalb des Gesamtschulsystems dann aber freie Schulwahl, Profilierungspflicht und intrasystemische Diversifikation nach finnischem Mustereingeführt würden, wäre unter den hiergegebenen Voraussetzungen schon als bloßes Gedankenspiel abstrus. Dafür kämpft, soweit ich sehe, auch niemand. Wer aber ein Gesamtschulsystem deutscher Machart OHNE die Strukturmerkmale, die das finnische System charakterisieren, einführen möchte, sollte sich dabei redlicherweise nicht auf Finnland berufen.

Dass die Vernachlässigung begabter Schüler Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen bedeutet, liegt auf der Hand. Für Politiker sollte das ein Argument sein. Es gibt aber noch ein ganz anderes, und das sollte eigentlich jedem Pädagogen das Gewissen rühren: Es ist die Situation, zu der die Schule ein unterfordertes Kind verdammt. Die Vorkämpfer der integrierten Gesamtschule behaupten unverdrossen, dass ein guter Lehrer in binnendifferenziertem Unterricht allen gerecht wird und dass die Lehrkraft eben versagt hat, wo dies nicht gelingt. Und durchaus üblich ist es in deutschen Schulen (wie auch in finnischen), in der Stunde Aufgaben unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades zu stellen. Da dividieren dann z. B. die Arbeitsgruppen, in denen die „Zweierschüler“ sitzen, mit gemischten Brüchen, während sich die Schwächeren mit Aufgaben vom Typ „3/4 : 1/4“ abmühen. Und dagegen ist ja auch nichts einzuwenden. Nur: Das ist die schiere Karikatur einer „Binnendifferenzierung“ im eigentlichen Sinne des Wortes, einer also, die wirklich den Be-dürfnissen unterschiedlich begabter Kinder gerecht würde. Ich mache mich z.B. anheischig, lernstarke Schüler im Rahmen eines auf ihre intellektuellen Ressourcen zugeschnittenen Unterrichts dazu anzuleiten, selber herauszufinden, wie man mit Brüchen dividiert, statt es ihnen zu erklären. Das kostet Zeit. Die hätte ich aber, weil diese Kinder hinterher viel weniger Zeit zum Üben brauchen als die Schwächeren. Jedoch: Weder ich noch irgendjemand anders kann innerhalb einer unausgelesenen Gruppe den Schwachen den Weg erklären und zugleich den Starken die Möglichkeit lassen, ihn selber zu finden. Jede Schule, die vorzugsweise oder ausschließlich die Bedürfnisse der Schwachen und des Mittelfeldes im Auge hat, tut den Begabteren Unrecht. Sie enthält ihnen de facto die Möglichkeit vor, ihr Potential zu entwickeln und so voranzuschreiten, wie sie es eigentlich könnten. Und sie bestraft sie mit doppelter Langeweile, wenn sie das trotzdem auch nur halbwegs schaffen, sei es auf eigene Faust oder dank elterlicher Unterstützung.

Letzteres kommt vor, ersteres ist überaus selten. Es gibt zwar – wer bestritte das?!– begabte Kinder in allen Bevölkerungsschichten. Eltern nehmen intellektuelle Fähigkeiten und andere Begabungen ihrer Kinder aber im allgemeinen nur vonder Mittelschicht an aufwärts wahr.Es wäre darum eine vorrangige Pflicht der Schule, ihr Augenmerk darauf zu richten, gerade die Begabungen der Kinder zu entdecken und zu fördern, deren Eltern das nicht tun, aus welchen Gründen auch immer.

Wir haben ein dreigliedriges Schulsystem, in dessen Rahmen sich prinzipiell beides realisieren ließe: Sowohl die Förderung der Lernschwachen als auch die der Lernstarken, und zwar unabhängig von ihrer Herkunft. Bisher ist dies aber nicht geschehen. Vielmehr hat das System zu eben der argen Schieflage geführt, die PISA so unwiderleglich offenlegt: Nirgends ist der Zusammenhang zwischen Schülerleistung und sozialem Hintergrund so eng wie hierzulande, und nirgends ist er so gering ausgeprägt wie in Finnland.

Was folgt daraus? NICHT, dass wir das dreigliedrige System aufgeben sollten, SONDERN dass das gesamte Bildungswesen seinen Blickwinkel verändern muss. Die Gesellschaft muss über Kindergarten und andere vorschulische Einrichtungen, dann aber vor allem über die Schule selbst, ganz anders als bisher Verantwortung für diejenigen Kinder übernehmen, deren Elternhäuser sie nicht so fördern, wie es das Grundgesetz und alle Schulgesetze deutscher Länder voraussetzen. Höher als das Recht der Eltern, u.U. durch Unvernunft, Unfähigkeit und schiere Gleichgültigkeit ihren Kindern irreversibel zu schaden, muss nach finnischem Vorbild der Rechtsanspruch des Kindes auf Unterstützung seiner Entwicklung seitens der Schule rangieren. Langfristig muss Deutschland gesetzliche Aufgabendefinition und Personalbestand pädagogischer Einrichtungen von Grund auf umstrukturieren, und zwar so, dass Kindergarten und Schule ihre gesellschaftlich unvermeidbar gewordenen Aufgaben erfüllen können. Gegenwärtig fehlen ihnen dazu sowohl die rechtlichen Grundlagen als auch die Ressourcen. In Finnland haben sie beides.

Wenn es nicht gelingt, die faktisch auf schlimme Weise gegebene „Sozialbindung“ der Schularten und da besonders des Gymnasiums zu sprengen – wenn der Vorwurf, hier ginge es in Wahrheit nur um „Besitzstandwahrung“, weiter hindurch die internationale Vergleichsstatistik gestützt wird – dann wird sich die Erhaltung des dreigliedrigen Schulsystems auf die Dauer politisch nicht durchsetzen lassen. Zwar gibt die Bildungsstatistik keinen Anlass zu der Annahme, dass Gesamtschulen deutscher Machart die Situation der Unterschichtenkinder verbessern würden. Bekanntlich schneiden sie in Baden-Württemberg und Bayern immer noch besser ab als in Bremen oder Nordrhein-Westfalen. Das wird aber alles nichts nützen. Die politische Kraft wohlbegründeten Ressentiments ist auf die Dauer stärker als Fakten.

Den Schwachen im doppelten Sinne: sowohl denen, die auf Grund ihrer sozialen Herkunft, als auch denen, die auf Grund ihrer genetischen Voraussetzungen im Nachteil sind (und dass diese Faktoren keineswegs immer zusammenfallen, weiß jede Lehrkraft), schulden wir –„wir“ als Gesellschaft politisch, aber auch „wir“ als Personen moralisch – die stellvertretende Wahrnehmung ihrer Interessen. Sie haben ein Recht auf Förderung und Hilfe. Nur wenn wir ihnen solche zu Teil werden lassen, können wir guten Gewissens auch die Lernstarken so fördern, wie es sowohl im Hinblick auf gesellschaftliche Ressourcen als auch auf individuelles Glück zu fordern ist. Beides müssen wir leisten. Wenn wir eines unterlassen, kann auf lange Sicht auch das andere nicht gelingen.

Literatur:
Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern iminternationalen Vergleich, Opladen 2001
Thelma von Freymann, Ein anderes Land, eine andere Schule – Zu den finnischen PISA-Ergebnissen, in: Neue Sammlung 2/2003, im Druck. Dieser breit angelegte Aufsatz enthält demographische Hintergrundinformation, Angaben über die rechtlichen Voraussetzungen des finnischen Erfolges sowie anekdotisches Material zum Unterricht an „ganz gewöhnlichen" Schulen.
dies., Modell Finnland. Was die deutsche Schule von der finnischen lernen könnte, in: PÄD Forum: Unterrichten/Erziehen 2/2003 S. 25–31. Dieser Text geht von Beispielen aus, die aufzeigen, wie das jeweils gleiche Problem einmal hier, einmal dort gehandhabt wird, und erläutert, warum das so ist.

fdw

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Bildung in Finnland