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Aus: Hamburger Abendblatt, 07.02.2004
Was macht Finnland besser?
Von Thelma von Freymann

"Was ist an den PISA-Ergebnissen so brisant? Die Leistungen der deutschen Probanden liegen auf allen Testgebieten deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Unter 31 Teilnehmerländern, davon sieben außereuropäischen, steht Deutschland in der Gesamtwertung 'Lesen' an 21., in Mathematik und Naturwissenschaft an 20. Stelle. Die 'Risikogruppe' (diejenigen Probanden, welche die unterste vom Test erfasste Kompetenzstufe nicht überschritten oder gar nicht erst erreichten) macht 23 Prozent der Teilnehmer aus ...

Deutschen Schulen gelingt es also weder, die gegenwärtig 15-Jährigen als Kohorte auf ein Niveau zu bringen, das internationalem Durchschnitt entspricht, noch die Nachteile auszugleichen, die für den Einzelnen aus bildungsferner sozialer Herkunft folgen.

Das Gegenbeispiel Finnland: Die finnischen 15-Jährigen erreichen im Lesen die weltweit höchsten Werte, in Mathematik und Naturwissenschaften werden sie von ein paar außereuropäischen Ländern wie Japan und Korea übertroffen, aber von keinem europäischen ...

Die Risikogruppe macht prozentual weniger als ein Drittel der deutschen aus, nämlich 7 Prozent ...

Die durch PISA nachgewiesene höhere Effektivität des finnischen Unterrichts erklärt sich nicht durch methodische Überlegenheit der dortigen Lehrkräfte, sondern dadurch, dass sie unter ganz anderen Bedingungen arbeiten. Die Stunden sind für Unterricht da und nur dafür. Während deutsche Lehrkräfte - vom Milchgeldeinsammeln bis zur Schlichtung zwischen verfeindeten Gruppen - für alles und jedes zuständig sind und oft genug erst in der zweiten Stundenhälfte überhaupt zur Sache selbst kommen, dürfen sie in Finnland nichts anderes tun als das, wofür sie ausgebildet sind: unterrichten. Für ausnahmslos alle anderen Aufgaben sind andere zuständig.

Außerdem ist die Lehrkraft in großen Schulen mit großen Klassen (d.h. über 20) meist nicht allein. Eine Assistentin steht zur Verfügung, um mit denjenigen Schülern zu arbeiten, die anderes 'Futter' brauchen als das Mittelfeld der Klasse. Auf keinen Fall wird von der Klassenlehrerin erwartet, dass sie allen zugleich gerecht wird. Selbst eine Fachlehrerin (Geographie und Biologie) in einer Oberstufe (Klasse 7 - 9) mit nur fünfzehn Schülern im Kurs erklärt mir klipp und klar, dass es nicht ihre Aufgabe sei, den Unterricht so zu gestalten, dass auch der Letzte alles mitkriege. Eine Assistentin bekommt sie bei dieser Schülerzahl zwar nicht, aber: Wer im Unterricht überfordert ist, erhält Spezialunterricht. Das ist das reguläre Verfahren ...

Wann immer ein Kind Leistungsschwächen zeigt, die sein Mitkommen gefährden könnten, wird die Speziallehrerin eingeschaltet. Es gibt an jeder Schule mindestens eine, an größeren mehrere. Sie hat außer der normalen Klassenlehrerausbildung ein Jahr Spezialstudium hinter sich und verfügt u.a. über lerndiagnostische und -therapeutische Kompetenz. Sie gibt jedem Kind, das im Klassenunterricht "untergeht", so viel Einzelunterricht, wie es braucht. Pro Jahr kommen nach Aussage des Zentralamts für Unterrichtswesen etwa 16-17 Prozent aller Schüler für kürzere oder längere Zeit in den Genuss solcher Hilfe.

Darum gibt es in Finnland keinen Markt für kommerziell betriebenen Nachhilfeunterricht ...

Die Schule selbst ist dafür verantwortlich, dass alle ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen dasjenige Grundpensum lernen, das die Richtlinien vorgeben. Aber eben: die Schule - nicht die einzelne Lehrkraft! Weil die Schwachen durch eine ganze Gruppe von Fachleuten aufgefangen, gestützt und gefördert werden, beträgt die Sitzenbleiberquote in Finnland nur 0,6 Prozent pro Jahr ...

Wer heute glaubt, eine Lehrkraft könne im Klassenunterricht allen Kindern gleichermaßen gerecht werden, wenn sie nur methodisch kompetent genug sei . . ., der glaubt an den Pädagogischen Weihnachtsmann. Er sollte die Augen aufmachen und erkennen: den gibt es nicht.

Was Deutschland braucht, wären demnach nicht Gesamtschulen mit heterogenen Klassen und binnendifferenziertem Unterricht, sondern ein Fördersystem nach finnischem Muster, und das zuallererst in den Grundschulen. In jeder Grundschule eine Sonderschullehrerin mit diagnostischer und methodischer Spezialkompetenz und für jede Grundschule ein bestimmtes Deputat sowohl an schulpsychologischer Beratung als auch an Schulsozialarbeit, und zwar fest, pro Woche, nicht fallweise - das wäre ein bescheidener Anfang.

Anmerkung:
Die sozialstatistischen Unterschiede zwischen Finnland und Deutschland werden im "Buch" (Originalartikel im Hamburger Abendblatt) genannt und erläutert.


Zur Autorin:
Akad. ORin i. R.. Aus Finnland gebürtig, deutsches Staatsexamen I + II, Schuldienst, Verlagstätigkeit (Klett), 1975 - 1995 als Mitglied des Instituts für Angewandte Erziehungs-
wissenschaft und Allgemeine Didaktik an der Universität Hildesheim im Studiengang
"Lehramt an Grund- und Hauptschulen"



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