Finnland & PISA
Hintergrundinformationen zum Testsieger Finnland
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F.A.Z.. Politik, Samstag, 09.02.2002, S. 3, Nr. 34
Die Finnen wissen, wo das Gleich- heitsprinzip seine Grenzen hat.
Bildungspolitische Strategien im Land der PISA-Sieger. Von Heike Schmoll.
HELSINKI, 8. Februar 2002.
"Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht erlauben", sagt Jukka Sarjala, der Präsident des Zentralamtes für Unterrichtswesen (opetushallitus) in Helsinki. Treffender ließe sich die Bildungsphilosophie des Pisa-Siegers Finnland kaum charakterisieren. Finnland ist fast so groß wie Deutschland, aber es hat nur fünf Millionen Einwohner. Jeder Schüler wird gefördert, bis er zumindest einen mittleren Leistungsstand erreicht. Nur so lassen sich hohe Leistungen beim Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften bei äußerst geringen Leistungsdifferenzen erklären, wie sie die Pisa-Studie ergeben hatte.
Alle Schulen sind mit einem Fördersystem ausgestattet, das deutsche Lehrer vor Neid erblassen ließe. Neben einem Kurator, der sich im Auftrag der Kommunen um soziale Belange kümmert, stehen Schulpsychologen, Speziallehrer mit einer sonderpädagogischen Ausbildung, Sprachtherapeuten, Arzt und Krankenschwester sowie Schulassistenten zur Verfügung und entlasten die Lehrer von all den zeitraubenden Aufgaben, die sie an der Konzentration auf den Unterricht hindern. Wie viele Speziallehrer vorhanden sind, hängt von der finanziellen Lage der Kommune ab, die Schulträger ist und die Lehrer einstellt und entläßt, die keinen Beamtenstatus haben. In armen Gemeinden kommt es durchaus vor, daß das gesamte Lehrerkollegium im Sommer rechtswidrigerweise für eine kurze Zeit entlassen wird.
Über 17 % der finnischen Schüler kommen in den Genuß einer Spezialförderung in kleinen Gruppen. "Wenn wir nicht früh fördern, werden die Sozialkosten später um so höher", sagt die zuständige Referentin im Zentralamt, das dem Bildungsministerium als ausführende Behörde untergeordnet ist. Wer in Mathematik schwach ist, geht während der Mathematikstunde in die Kleingruppe und bleibt dort, bis er seine Lücken aufgeholt hat. Jedes Kind erhält für den Spezialunterricht einen eigenen Lehrplan, der mit den Eltern und Schülern besprochen, manchmal sogar durch einen Vertrag besiegelt wird. Es handelt sich also um eine gestufte Integration, die sich nach den Bedürfnissen des Schülers richtet - das gilt insbesondere für lernschwache oder leicht behinderte Kinder, die nur im Notfall auf eine der wenigen Sonderschulen geschickt werden.
Neun Jahre lang hat in Finnland kein Lehrer die Möglichkeit, schwächere Schüler an die nächstniedrigere Schule abzuschieben. Wer allerdings glaubt, die deutsche Bildungsmisere mit einem allgemeinen Gesamtschulsystem lösen zu können, hat nur einen oberflächlichen Blick nach Nordeuropa geworfen. Denn die finnischen Einheitsschulen sind mit deutschen Gesamtschulen nicht vergleichbar. Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist die Gesamtschule in Deutschland zu einer Art Restschule geworden. Das zeigt sich vor allem in Nordrhein-Westfalen und Hessen, wo sowohl dreigliedrige Schulformen als auch Gesamtschulen nebeneinander existieren. Zum ändern ist die finnische Einheitsschule (nach dem Modell der DDR-Einheitsschule) so binnendifferenziert, daß sie nicht mit Gesamtschulen vergleichbar ist. Die Klassen 1 bis 6 bilden die Grundstufe (alaaste), die Klassen 7 bis 9 die Mittelstufe (yläaste), darüber gibt es die jahrgangslose Oberstufe mit Kurssystem (lukio). Da Schulpflicht in Finnland nicht mit Anwesenheitspflicht gleichzusetzen ist, können auch Kurse belegt werden, die nicht besucht, aber geprüft werden. Jeder Schüler kann seinen Stoff lernen, wo er will.
Am Ende der Lukio steht ein Zentralabitur, das von einer unabhängigen Kommission abgenommen wird. Das Zentralabitur sorgt für vergleichbare Standards bei der sonstigen Autonomie der Schulen selbst in der Lehrplangestaltung. Dennoch zählt die Oberstufe zu den Schwachpunkten des Systems. Jedenfalls halten die Universitäten die Kursbelegung für allzu beliebig und zu wenig kontinuierlich. Insgesamt handelt es sich beim Abitur um vier schriftliche Prüfungen, eine in der Muttersprache, eine in der zweiten Landessprache, in einer Fremdsprache sowie Mathematik oder Realien (Geschichte, Naturwissenschaften, Religion). Mündliche Prüfungen gibt es nur fakultativ, was finnischen Schülern entgegenkommen dürfte.
Sie schweigen meist und reden genau wie die Erwachsenen nur dann, wenn sie etwas zu sagen haben. Finnische Lehrer werden kaum einen Schüler aufrufen, der sich nicht freiwillig meldet. Sie halten es für falsch, einen Schüler vor den anderen zu blamieren. Positive Bestärkung und Ermunterung stehen im Vordergrund, nicht die wertende Suche nach Fehlern und Schwächen. Vielleicht liegt es daran, daß finnische Schüler, die eine Zeitlang in Deutschland waren, die dortigen Lehrer als so viel strenger und unnahbarer empfinden. Das finnische "Du" zwischen Lehrer und Schüler jedenfalls wird es kaum machen. Die Schweden, so meint man im Bildungsministerium, hätten die positive Bestärkung übertrieben, es müßten auch klare Grenzen gesetzt werden.
Daß nur fünf Prozent der Abiturienten die höchste Notenstufe erreichen dürfen, steht von vornherein fest, auch die übrigen Zensurverteilungen sind vorgegeben. Wer studieren will, muß den Numerus clausus des gewünschten Faches erfüllen und außerdem eine Eignungsprüfung der aufnehmenden Universität bestehen. Solange die Schulen das Abitur nicht anders organisierten, schafften sie ihre Aufnahmeprüfungen nicht ab, meint etwa der Rektor der Universität in Helsinki. Mit dem Abitur ist mitnichten ein Rechtsanspruch auf einen Studienplatz verbunden, die Universitäten sind der Elite vorbehalten. Die Finnen wissen, wo das Gleichheitsprinzip seine Grenzen hat. In der Schule dürften trotzdem die Hochbegabten eher zu kurz kommen als die schwächeren Schüler.
Als rohstoffarmes Land wissen die Finnen längst, daß nur Bildung zum wirtschaftlichen Erfolg führen kann. Weil weder Finnisch noch Schwedisch andernorts in Europa gesprochen werden, führt nur das Sprachenlernen aus der Isolation. Die historisch bedingte Bilingualität hat nachhaltige Folgen für das Schulsystem, das jeweils in zweifacher Ausfertigung (in Lappland auch noch in Saamisch) zur Verfügung stehen muß.
Fast sechshundert Jahre lang gehörte Finnland zum schwedischen Reich, war also politisch und kulturell an Mitteleuropa angeschlossen. Michael Agricola, Reformator Finnlands, war ein Schüler Luthers und übersetzte das Neue Testament ins Finnische. Schwedisch war lange Jahre Sprache der Oberschicht und Voraussetzung für höhere Bildung und sozialen Aufstieg. 1809 gelang Rußland die jahrelang angestrebte Eroberung. Die Kulturbedeutung des Schwedischen ging jedoch nicht etwa auf das Russische über. Vielmehr kam dem Finnischen zugute, daß sich die westlichen Interessen verfestigten. 1860 wurde das Grundschulsystem geplant. Wie die heutigen Bildungsplaner reiste dessen Gründer durch ganz Europa. Bis heute werden in kaum einem europäischen Land so intensive Lehrplanvergleiche mit anderen europäischen Ländern angestellt wie in Finnland. Die erste finnische Grundschule wurde 1866 gegründet, 1867 das erste Gymnasium. Am 6. Dezember 1917 erklärte Finnland seine Unabhängigkeit, seither ist es selbständige Republik. Die allgemeine Schulpflicht gibt es erst seit 1921. Lange Jahre gab es in Finnland ein dreigliedriges Schulsystem. Es war das erste europäische Land, das schon 1964 eine Fremdsprache in der Grundschule und 1968 zwei verpflichtende Fremdsprachen (außer den Landessprachen) in der Mittelstufe einführte.
Jeder Einwohner muß Finnisch und Schwedisch lernen und bekommt dafür auch ein Sprachzertifikat. Die Ausländer, die in Finnland leben (es sind weniger als zwei Prozent), sollen ebenfalls beide Landessprachen lernen, haben aber auch ein Anrecht auf ein bis zwei Unterrichtsstunden in ihrer Muttersprache. Albanisch, Somalisch, Russisch werden am häufigsten gebraucht und in Zukunft eher noch mehr, prophezeit Jukka Sarjala, Präsident des Zentralamts für Unterrichtswesen. An manchen Schulen werden bis zu elf Fremdsprachen angeboten - Schwedisch, Estnisch, Russisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Japanisch, Italienisch, Spanisch, nur selten dagegen Latein (die humanistische Bildung fällt in Finnland aus). In den siebziger Jahren wurden Unterstufe und Mittelstufe zur Einheitsschule zusammengefaßt.
Seit 1996 gibt es einen verpflichtenden Vorschulunterricht für alle sechsjährigen Kinder, der gezielt auf die erste Klasse vorbereitet. Die Erzieherinnen haben dieselbe akademische Ausbildung wie Grundschullehrer. Bis zur Pisa-Studie wurde auch in Finnland diskutiert, was in Deutschland neuerdings als Allheilmittel erwogen wird: die frühere Einschulung mit fünf Jahren. Abgesehen davon, daß die Schüler in den dünnbesiedelten Teilen des Landes (im Norden kommen auf einen Quadratkilometer weniger als 0,7 Einwohner) extrem lange Schulwege auf sich nehmen müssen, die Fünf- oder Sechsjährigen nicht zuzumuten wären, ist der Lernfortschritt bei den Siebenjährigen enorm. Alle Kinder, die Mitte August eingeschult wurden, können bis Weihnachten fließend lesen. In den ersten beiden Grundschulklassen werden sieben Stunden Finnisch erteilt. Es erfüllt die Kinder mit Stolz, wenn sie im finnischen Fernsehen, wo viele englische, deutsche und französische Filme in der Originalsprache gesendet werden, die finnischen Untertitel lesen können.
Und was geschieht mit den Kindern, die noch nicht lesen können? "Dafür werde ich doch bezahlt, daß ich beiden gerecht werde", sagt eine Grundschullehrerin selbstbewußt. Jedes Kind habe sein Pultbuch, erklärt sie, darin kann es lesen, wenn es mit den anderen Aufgaben fertig ist. Binnendifferenzierung gibt es also auch im Klassenraum. Lehrer genießen in Finnland hohes Ansehen, werden allerdings nicht so bezahlt. Kein Politiker käme je auf den Gedanken, Lehrer öffentlich zu beschimpfen, zumal sich die besten Abiturienten oft für das Lehramt entscheiden.
Das Lesen wird schon in der Grundschule energisch trainiert. Die finnische Lesekultur stellt in den Schatten, was das Volk der Dichter und Denker - zumindest bis zur Pisa-Studie - für sich in Anspruch nehmen zu können meinte. Noch in das letzte Dort Lapplands kommen fahrende Bibliotheken in Bussen, der Fernunterricht über Computer wird immer häufiger, von Anfang an wird das Vorstellen von Büchern im Unterricht geübt. Die Schulbücher sind auf dem neuesten Stand, weil es keine Genehmigungspflicht gibt. Sie werden wie jeder Bleistift und Jedes Heft von der Gemeinde gekauft. Das Zentralamt für Unterrichtswesen, das gerade neue Lehrpläne konzipiert, lädt die Verlage zu den Sitzungen der Lehrplankommissionen ein.
Und wieso kann in Finnland jede Verkäuferin fließend Englisch? Schon in der dritten Grundschulklasse beginnt die erste Pflichtfremdsprache. Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch, Schwedisch stehen zur Wahl. In der fünften Klasse beginnt die Wahlsprache (jede beliebige), in der siebten Klasse die zweite Pflichtfremdsprache (Englisch oder Schwedisch). Der Fremdsprachenunterricht orientiert sich am Alltagsgebrauch. Ein finnischer Schüler wird sicher nie ein Goethe-Gedicht zu Gesicht bekommen, sondern sein Abitur über einen Zeitungsartikel schreiben. Ähnliches gilt für die anderen Fremdsprachen, die Hörverstehen in den Vordergrund stellen, schriftlich eher weniger beherrscht werden. Dem früheren baden-württembergischen Lehrer Rainer Domisch, heute im Zentralamt und als Fachberater für Deutsch im Goethe-Institut in Helsinki tätig, ist es gelungen, das Deutschlernen erheblich zu stärken. Zwischen 1994 und 2001 steigerte sich der Anteil des Grundschul- und Wahlsprachen-Deutschunterrichts von null auf 38,7 %. Landesweit bietet er Fortbildungen für Lehrer an, deren Grundausbildung keineswegs besser ist als in Deutschland. Allerdings wagt in Finnland kaum ein Lehrer, den freiwilligen Fortbildungen fernzubleiben, obwohl sie in der unterrichtsfreien Zeit stattfinden.
F.A.Z.. Politik, Samstag, 09.02.2002, S. 3, Nr. 34; veröffentlicht auch in "Sonderdruck PISA 2000", Landeselternschaft der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen e.V., Mai 2002
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F.A.Z., Zeitgeschehen, Donnerstag, 14.02.2002. S. 12, Nr. 38
Finnische Lesekultur.
Das Beherrschen der Muttersprache als Voraussetzung zum Fremdsprachenerwerb. Von Heike Schmoll.
HELSINKI, im Februar 2002.
Schon seit Weihnachten redet in Finnland keiner mehr von der Pisa-Studie, erst recht nicht von den guten Ergebnissen der eigenen Schüler. Denn die Evaluation des gesamten Bildungssystems hat Tradition im Norden. Alle zwei Jahre veröffentlicht "Statistics Finland" einen Band, der nicht nur Zahlen über Schulbesuch, Studium und berufliche Ausbildung enthält, sondern auch die Ergebnisse internationaler Vergleichsuntersuchungen im Blick auf Lesefähigkeit und andere Fertigkeiten der Schüler. Vergleichsuntersuchungen auch über die Leistungen einzelner Schulen sind selbstverständlich und geradezu Routine. Zur Zeit werden sie meist im Auftrag des Zentralamtes für Unterrichtswesen, der ausführenden Schulbehörde, von Wissenschaftlern wahrgenommen. In einem Jahr aber will das Bildungsministerium eine eigene Evaluationsbehörde einrichten, die dann unabhängig vom Zentralamt arbeitet.
Finnland liegt fast immer in der Spitzengruppe dieser Vergleiche, etwa bei der IEA Reading Literacy Study 1990/91. Die 14 Jahre alten finnischen Schüler erzielten dabei die besten Ergebnisse im Weltvergleich. Trotzdem fragen die Zeitungen in Helsinki weiter: "Was ist faul an unseren Schulen?", auf den Lorbeeren ruht sich im Norden niemand aus. Auch bei der Pisa-Studie hat Finnland das beste Ergebnis im Lesen bei gleichzeitig geringem Abstand zwischen schwachen und starken Schülern erzielt. Allerdings gilt auch in Finnland, daß die Mädchen deutlich höhere Werte erreichen als die Jungen. Der Index für die Unterstützung durch den Lehrer liegt jedoch in Finnland nicht ohne Grund weit über dem OECD-Durchschnitt. Das ausgeklügelte Fördersystem an jeder einzelnen Schule sorgt für eine frühe Diagnose von Lernschwächen und sonstigen Störungen. Behoben werden sie in der Schule, in vertrauten Räumen, mit bekannten Bezugspersonen, so daß die Schüler die Trennung von der Klasse nicht als Stigmatisierung erfahren, sondern fast schon als Auszeichnung. Die Speziallehrer mit einer sonderpädagogischen Zusatzausbildung gehören nicht selten zu den beliebtesten einer Schule. Es gibt durchaus Schüler, die nur am Sport- und Werkunterricht der normalen Klasse teilnehmen, in allen übrigen Fächern aber einen Spezialunterricht nach individuellem Lehrplan genießen, der das Ziel hat, sie sukzessive wieder in die Klasse einzugliedern.
Es gibt in Europa kaum ein Land, das bei knappen Ressourcen der Bildung so einen hohen Stellenwert zumißt wie Finnland. Das ist einerseits geschichtlich bedingt, denn gesellschaftliches Ansehen hing schon im 19. Jahrhundert mehr von der Bildung als vom Besitz ab. Zum anderen ist es in der Isolationserfahrung begründet. Finnisch hat mit keiner anderen gängigen Sprache Europas etwas gemein, zwar wird alles so gesprochen, wie es geschrieben wird, dafür ist die Grammatik kompliziert. Alle müssen also wenigstens die zweite Landessprache und meistens auch zwei weitere europäische Sprachen lernen. Französisch ist in Finnland unbeliebt, weil es als zu fein gesehen wird. Englisch kann fast jeder, Deutsch lernen immer mehr Schüler. Aber die Finnen machen in ihrer Fremdsprachenbegeisterung und ihrem extrem sprachlastigen Schulsystem nicht den Fehler, Fremdsprachen auf Kosten des muttersprachlichen Unterrichts zu lernen. Finnisch wird sowohl in der ersten als auch in der zweiten Klasse mit sieben Wochenstunden unterrichtet. Damit auch der Erstkläßler lernt, alle Laute der finnischen Sprache korrekt zu bilden, werden die Worte in Silben laut gelesen, auch die ersten Finnisch-Bücher sind in Silbenschreibung gedruckt. Wer es nicht schafft, das Gaumen-R richtig zu bilden (dem Lispeln in Deutschland vergleichbar), erhält gleich logopädischen Unterricht in der Schule.
In der Grundschule in Itäkeskus, einem Vorort von Helsinki, der wegen seines riesigen gläsernen Einkaufszentrums bekannt ist, gibt es schon in der Grundschule so lesebegeisterte Mädchen, daß sich Lesezirkel außerhalb der Schule bilden. Der wöchentliche Gang zur Bibliothek reicht nicht immer, um ausreichend Lesestoff zu besorgen. Aber Itäkeskus ist keine Ausnahme. Im ganzen Land steigen jährlich die Zahlen der öffentlichen Bibliotheksbesuche, in Helsinki waren es im vergangenen Jahr sogar 5 % mehr. Kreativität und Phantasie werden systematisch beim Schreiben gefördert. Erörterungsaufsätze gibt es im Finnischen nicht, sondern meistens Geschichten, die zu Ende geschrieben werden müssen oder mit einem vorgegebenen Satz enden sollen und in Deutschland als "creative writing" bezeichnet würden.
Fernsehen und Computer sind keine wirklichen Konkurrenten zum Buch. Das mag auch in der Mentalität der Nordländer begründet sein. "Das Buch schützt davor, in der U-Bahn womöglich jemand anderem in die Augen schauen zu müssen", sagt eine Lehrerin etwas spöttisch. Weil es nur wenig Fernsehsendungen in finnischer Sprache gibt, ist auch das Fernsehschauen Lesetraining. Denn synchronisiert werden die ausländischen Filme nicht, sondern nur mit finnischen Untertiteln versehen. Den Computer erleben die Schüler von der ersten Klasse an als Arbeitsmittel. Es gibt kaum einen Klassenraum ohne Computer, natürlich auch Computerräume, die in der Regel mit relativ modernen Geräten ausgestattet sind. Es gibt Programme, die es dem Lehrer erlauben, die Lesegeschwindigkeit und das Textverständnis seiner Schüler zu überprüfen. Ein roter Ball hüpft über einen finnischen Text, je nachdem, wie schnell der Schüler folgen kann und dabei den Text noch versteht (es gibt dazu eigene Fragen), ist seine Lesefähigkeit entwickelt.
Auch in Finnland gibt es Kinder, die durch zwei Pflichtfremdsprachen, die wirklich beherrscht werden müssen, überfordert sind. Wenn alle Unterstützung nichts nützt, können besonders lernschwache Schüler von der zweiten Pflichtfremdsprache befreit werden. Allerdings geschieht es nur in den seltensten Fällen, weil dann das Abschlußzeugnis der neunten Klasse nicht vollwertig ist - und das bekommt jeder. Es ist auch nicht mit einer eigenen Abschlußprüfung verbunden. Wer danach die Oberstufe besuchen will, muß entsprechend gute Zensuren erreicht haben.
Das Abitur besteht aus vier obligatorischen schriftlichen Prüfungen in der Muttersprache, in der zweiten Landessprache, einer Fremdsprache sowie Mathematik oder Realien. Es fällt auf, daß die schwedischsprachigen Schüler beim Abitur meist die besseren Ergebnisse erreichen, weil sie es leichter haben, andere europäische Sprachen zu lernen. Fremdsprachenunterricht ist in Finnland pragmatisch auf den Alltagsgebrauch ausgerichtet, Literatur wird nicht gelesen. Die Lehrer gestehen auch ein, daß ihre Schüler damit hoffnungslos überfordert wären. "Frühling, Flirts und Familienfeste", "Dem Mutigen gehört die Welt", "Ende gut, alles gut", "Jugend ist schön", "Blick auf die Zukunft", das sind Themen für Deutschkurse in der Oberstufe in Itäkeskus. Themenorientiert wird auch Latein unterrichtet: "Nosce te ipsum", "Vita urbana", "Vita antiqua", "De viribus illustribus" sind die angebotenen Kurse überschrieben. Die Anzahl der Interessenten ist erbärmlich. Nur 3,9 % der Schüler wählten im Jahr 2000 Latein als zweite freiwillige Sprache, Altgriechisch gibt es überhaupt nicht. Um so besser beherrschen die Finnen die modernen Sprachen trotz weniger Unterrichtsstunden mit geringem Grammatikanteil. Eine aus Deutschland zurückgekehrte Schülerin der deutschen Schule in Helsinki sagt: "Ich war entsetzt über die vielen Englischfehler der deutschen Mitschüler."
F.A.Z., Zeitgeschehen, Donnerstag, 14.02.2002. S. 12, Nr. 38; veröffentlicht auch in "Sonderdruck PISA 2000", Landeselternschaft der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen e.V., Mai 2002
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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Politik, 24.02.2002, S. 10, Nr. 8
Das Land, in dem die Besten Lehrer werden.
Warum Finnlands Schüler Weltmeister sind: Alle Kinder lernen Fremdsprachen und werden individuell betreut. Von Heike Schmoll.
HELSINKI.
Im Südhafen schwimmt dickes Packeis. Neben der S-Bahn nach Vantaa staubt der Neuschnee in dichten Wolken. Vantaa, ein sozial gemischter Vorort von Helsinki, ist fast mit dem Stadtkern verwachsen. Hier leben viele ärmere Finnen, aber auch zahlreiche Ausländer. Während deren Anteil in Finnland insgesamt bei nicht mehr als zwei Prozent liegt, beträgt er in Vantaa in manchen Schulklassen bis zu zehn Prozent. Vor der Grundschule hat gerade eine dritte Klasse ihre Sportstunde auf dem Eisweiher. Die Schlittschuhe liegen neben den Schulranzen. Es ist eine sogenannte Sprachbad-Klasse.
Die Kinder haben in den ersten beiden Klassenstufen der finnischen Einheitsschule sechs bis sieben Stunden Deutsch in der Woche. Alle Sachfächer werden auf deutsch unterrichtet, das sind Sachkunde, Musik, Handarbeit und Kunst, Sport und Mathematik. Mathematik wird allerdings zunächst auf finnisch gelehrt. Erst wenn den Kindern die mathematischen Begriffe vertraut sind, wird ins Deutsche gewechselt. Finnisch und Religion werden aus guten Gründen in der Muttersprache gegeben. "Wer kann Schlittschuhlaufen' an die Tafel schreiben?" fragt die Lehrerin. Sie spricht nahezu akzentfrei Deutsch und ist eine erfahrene Grundstufenpädagogin.
Kalle versucht sich an der Tafel. "Schlttschlufen" malt er mit vorsichtigen Bewegungen. "Das ist ein ungeheuer langes Wort", sagt die Lehrerin und fügt stillschweigend die fehlenden Buchstaben hinzu, ohne Kalles Vorschlag wegzuwischen. Sie weist nicht eigens darauf hin, daß Buchstaben fehlen. Denn in Finnland wäre das ein schwerer didaktischer Fehler. Kein Lehrer blamiert einen Schüler vor der Klasse und tadelt seine mangelhafte Leistung.
Hat das Land trotzdem oder gerade deshalb die besten Ergebnisse im Lesen sowie hervorragende in Mathematik und Naturwissenschaften bei der Pisa-Studie erzielt? Offenbar führt die positive Bestärkung durch die finnischen Lehrer zu einem entspannten und ermutigenden Lern- und Schulklima. Die Pisa-Ergebnisse haben für zusätzliche Aufbruchstimmung unter den Lehrern gesorgt. Aber resigniert waren sie ohnehin nicht. Während in Deutschland jeder meint, Bildungsdebatten führen zu müssen und über Schule mitreden zu können, wird in Finnland die Professionalität der Lehrer anerkannt.
Es käme auch kein Politiker auf den Gedanken, Lehrer öffentlich zu beschimpfen. Lehrer können sich durch Rücksprache mit Speziallehrern, Schulpsychologen und Ärzten an der Schule selbst in ihrem Urteil absichern. Außerdem sind die finnischen Lehrerfortbildungen anspruchsvoll. Die Lehrer erwarten etwas von ihrer Fortbildung, zu der sie häufig durchs halbe Land reisen müssen. Mit gruppendynamischen Mätzchen wie hierzulande sind sie nicht abzuspeisen. Kein Lehrer verzichtet darauf, sich didaktisch auf den neuesten Stand bringen zu lassen. "Wenn ich da nicht hingehe, dann entwickele ich mich doch nicht weiter", sagt eine Grundschullehrerin.
In Finnland sind es die besten Abiturienten, die sich für das Lehramt entscheiden - trotz des nicht gerade üppigen Gehalts. Selbst für die Grundschule gibt es unterschiedliche Lehrerausbildungen, eine als Klassenlehrer, eine als Fachlehrer. Auch wenn an jeder Schule ein Speziallehrer mit sonderpädagogischer Zusatzausbildung arbeitet, verfügen alle Lehrer über gute diagnostische Fähigkeiten. Schnell schicken sie Schüler, die nicht mitkommen, zum Schulpsychologen oder zum Speziallehrer. Die Entlastung der Lehrer von allen Aufgaben, die über die pädagogische Arbeit im engen Sinne hinausreichen, gehört zu den Erfolgsrezepten des finnischen Schulsystems.
Hinzu kommt, daß sich hinter dem Konzept der Einheitsschule (alle besuchen in den Klassen eins bis sechs zunächst die Grundstufe und dann bis zur neunten Klasse die Mittelstufe) ein äußerst individueller Zugang zu den Schülern verbirgt. Von Gleichmacherei ist da nichts zu spüren. "Jedes Kind lernt anders, darauf müssen wir eingehen", sagt eine Grundschullehrerin. Die Individualisierung kann so weit gehen, daß Kinder auf sie zugeschnittene Lehrpläne erhalten - etwa beim Spezialunterricht für Fächer, in denen sie schwach sind.
Ohnehin macht jede Schule ihren eigenen Lehrplan, der allerdings den Rahmenrichtlinien des Zentralamtes für Unterrichtswesen in Helsinki entsprechen muß. In zwei Jahren soll die große Freiheit der Schulen bei der Gestaltung des Unterrichtsstoffs allerdings durch detaillierte Lehrpläne eingegrenzt werden. Auch eine zentrale Evaluierungsbehörde soll es dann geben. Aber mit der Konzeption des Unterrichtsstoffs ist es nicht getan. Bei einer Befragung finnischer Schulleiter hat sich ergeben, daß nicht die Ressourcenknappheit der Kommunen - sie zahlen die Gehälter - das größte Problem ist. Vielmehr versuchen die finnischen Eltern zunehmend, ihre Erziehungsaufgaben auf die Schule abzuwälzen. Auch finnische Lehrer haben mit unerzogenen Kindern zu kämpfen, die sie am Unterrichten hindern.
Die Ausgaben für Bildung liegen weit über den deutschen Aufwendungen.
Der Spezialunterricht trägt entscheidend zu einem ermutigenden Lernklima bei. Er ist so organisiert, daß er nicht als Nachsitzen verstanden werden kann. Der individuelle Unterricht im vertrauten Raum und in einer kleinen Gruppe wird von den Schülern eher als besondere Zuwendung erfahren - und nicht als eine Stigmatisierung. Das Land läßt sich den Luxus eines staatlichen Förderunterrichts einiges kosten: Die Ausgaben für Bildung liegen weit über dem OECD-Durchschnitt und den deutschen Aufwendungen. Ein riesiger Markt des Nachhilfeunterrichts wie hierzulande könnte sich in Finnland nicht entwickeln - schon aus geographischen Gründen nicht.
Was in Deutschland nicht durch die Schulen aufgefangen wird, muß privat organisiert werden. Es ist alarmierend, daß sich die Zahl der Schüler, die Nachhilfeunterricht erhalten, zwischen 1995 (330 000) und 2001 nahezu verdoppelt hat (600 000). Deutsch, Mathematik und Englisch sind die gefragtesten Fächer, also gerade die Kernkompetenzen, die für den Schulabschluß und die spätere Berufskarriere eine Schlüsselrolle spielen. Das finnische Fördersystem auf die deutsche Schule zu übertragen wäre mit einer enormen Steigerung der Bildungsausgaben verbunden. Angesichts der Staatsfinanzen ist ein solches Ansinnen völlig unrealistisch.
In Finnland ist es keine Seltenheit, daß sich zwei Lehrer in einem Klassenraum befinden. Einer betraut etwa die fortgeschrittenen Schüler mit besonderen Aufgaben, ein anderer festigt die Kenntnisse der schwächeren. Auch in Vantaa arbeitet gleichzeitig eine Schulassistentin aus Österreich im Unterricht mit. Sie kniet gerade neben einem Drittkläßler und erklärt ihm, wie ein Wort geschrieben wird.
"Wiederholen, immer wiederholen, das ist das Allerwichtigste", sagt die Deutschlehrerin aus der Sprachbad-Klasse. Die "Raupe Nimmersatt" war dran, die sich durch ein Stück Obst und Gemüse nach dem anderen frißt. Die Schüler lernen die deutschen Bezeichnungen für die wichtigsten Obst- und Gemüsesorten und erfahren im Sachunterricht gleichzeitig mehr über die Entwicklung einer Raupe zum Schmetterling. Fremdsprachen-Unterricht in der Grundschule kann nur gelingen, wenn er kindgemäß, erzählerisch und mit spielerischen Elementen erteilt wird, aber keineswegs auf klare Lernziele verzichtet. Damit haben die Finnen seit 1964 Erfahrung. Damals wurde in der Grundschule die erste Fremdsprache im dritten Schuljahr eingeführt.
Das Beherrschen einer fremden Sprache steht und fällt jedoch mit der Kenntnis der eigenen. Die Finnen haben zu ihrer ein ganz besonderes Verhältnis. Finnisch wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts als Amtssprache anerkannt. Die Finnen wissen zwar, daß sie sich auf einer einsamen Sprachinsel befinden, aber sie pflegen ihre eigene Sprache und ihre Literatur mit einem unübersehbaren Nationalstolz. Gleichzeitig verlieren sie Europa nicht aus dem Blick. Wer die Welt außerhalb Finnlands wahrnehmen will, muß mindestens eine Fremdsprache lernen. Vielleicht gelingt das finnischen Schülern auch deshalb besser, weil sie ihre eigene Muttersprache sicherer beherrschen.
In Vantaa jedenfalls gibt es sogar in der Grundstufe eine eigene Schülerzeitung, in der Texte von älteren und jüngeren Schülern veröffentlicht werden. Auch Zweitkläßler liefern zu. Zwar hat die finnische Sprache den Vorteil, daß sie sich genauso schreibt, wie sie sich spricht, aber dafür ist die Grammatik um so komplizierter. Deutsche Pluralbildungen wie "Fuß" und "Füße" schrecken finnische Schüler nicht. Lesen und Schreiben gehörten zusammen, meinen die Lehrer. Trotzdem gibt es keine Diktate und auch keine Erörterungsaufsätze. Meist bekommen die Kinder angefangene Geschichten vorgesetzt, die sie zu Ende schreiben müssen. In Finnland zählt die Phantasie.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Politik, 24.02.2002, S. 10, Nr. 8; veröffentlicht auch in "Sonderdruck PISA 2000", Landeselternschaft der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen e.V., Mai 2002
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Sonderdruck "PISA 2002" Hrsg: Landeselternschaft der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen e.V., Mai 2002, S. 29
Warum ausgerechnet Finnland?
Anmerkungen zu den finnischen PISA-Ergebnissen. Von Thelma von Freymann.
Seit die PISA-Ergebnisse bekannt wurden, hat es in der deutschen Presse zahlreiche Kommentare zu ihnen gegeben. Aus dem guten Abschneiden Finnlands sind dabei im wesentlichen zwei Schlüsse gezogen worden:
1. Das finnische Schulsystem sei als solches effektiver als das dreigliedrige deutsche.
Deshalb sei letzteres abzuschaffen und ein Gesamtschulsystem einzuführen.
2. Der von finnischen Lehrkräften gegebene Unterricht sei besser als
der hierzulande übliche.
Deshalb sei Lehrerfortbildung zu forcieren.
Wer so argumentiert, kann kein Finnisch und weiß nicht, wie Schule in Finnland funktioniert.
A. Das allgemeinbildende Schulsystem in Finnland
Schulträger sind in der Regel die Gemeinden. Die Schulen haben eine sehr weitgehende Autonomie, sogar in Bezug auf den Lehrplan. Lehrkräfte sind nicht Beamte, sie werden nach Bedarf eingestellt und entlassen.
Die Schulpflicht beginnt im Jahr des siebten Geburtstages und endet mit der 9. Klasse. Es gibt keine Sonderschulen und kein Sitzenbleiben. Das Schuljahr beginnt Mitte August und endet am 31. Mai, die Sommerferien dauern also zweieinhalb Monate. Ganztagsschulen mit Beginn um 9 Uhr sind die Regel. Die Schulwahl ist frei, niemand muß die nächstgelegene Schule besuchen, wenn er lieber in eine andere möchte.
Die erste Schulform ist die 6jährige ALA-ASTE. Die Klassenlehrerin gibt meist alle Fächer außer den Fremdsprachen.
Die zweite Schulform ist die 3jährige YLÄ-ASTE. Hier unterrichten Fachlehrer.
ALA-ASTE und YLÄ-ASTE sind normalerweise institutionell getrennt; Ausnahmen gibt es nur in Ballungsregionen. Zusammen machen die beiden Schulformen die PERUSKOULU aus - wörtlich: die Grundschule.
Die dritte Schulform ist die LUKIO. Sie führt keine Jahrgangsklassen, sondern arbeitet mit einem reinen Kurssystem. Je nach Begabung, Fleiß und angestrebtem Notendurchschnitt kann man das Abitur nach zwei, drei oder vier Jahren ablegen. Dabei handelt es sich um ein scharfes Zentralabitur, bei dem nicht nur die Aufgaben zentral gestellt, sondern auch die Arbeiten der Prüflinge zentral korrigiert werden. Ihre eigenen Lehrkräfte haben keinen Einfluß auf die Zensuren.
Der Notendurchschnitt ist von entscheidender Bedeutung, wenn man studieren will, denn das Abitur als solches begründet keinen Anspruch auf einen Studienplatz. Wenn das Zeugnis gut genug ist, kann man sich um einen solchen bewerben. Ob man ihn bekommt, entscheidet allein der zuständige Fachbereich an der Universität. Die Zahl der Studienplätze richtet sich nach der Gesamtkapazität des Lehrkörpers im Fachbereich. Die Überfüllung von Lehrveranstaltungen als Ausweg aus dem Kapazitätsdilemma steht außerhalb jeder Diskussion: Sie ginge ja auf Kosten der Ausbildungsqualität. In dem Studiengang, der dem hiesigen "für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen" entspricht, bekommen normalerweise etwa 30 % der Bewerber einen Platz.
Für das Schulsystem insgesamt gilt, daß es zwar für ausländische Beobachter, die keine der beiden Landessprachen verstehen, nach Gleichheit aussieht, daß dies aber eine Art optischer Täuschung ist. In Finnland ist jede Schule verpflichtet, ihr eigenes Schulprofil zu entwerfen und zu realisieren. Dies führt dazu, daß die Unterschiede zwischen den rein formal gleichförmigen Schulen viel größer sind als die Unterschiede zwischen Schulen gleicher Schulart in Deutschland und dieser Unterschied im Einzelfall durchaus so groß sein kann wie hierzulande der zwischen Hauptschule und Gymnasium. Ohne das Zentralabitur fiele das Gesamtsystem auseinander. Das tut es aber nicht, weil auch die PERUSKOULU letztlich das Abitur als Richtgröße für ihr Anpruchsniveau benutzen muß. Sie nähme Ja sonst ihren Schülern die Chance, es eines fernen Tages zu bestehen. Diese Rücksicht scheint aber nicht ganz auszureichen. Die Zentrale Unterrichtsverwaltung, OPETUSHALLITUS, hat vor, in den nächsten Jahren Rahmenrichtlinien für die PERUSKOULU zu erlassen.
Die Stundentafeln sind extrem sprachenlastig. Die erste Fremdsprache beginnt spätestens in Klasse 3, die zweite in Klasse 5, die dritte in Klasse 7. Die jeweils andere Landessprache und Englisch sind Pflicht, weitere Fremdsprachen wahlfrei. Die Sprachenfolge ist frei. Zwar muß die erste Fremdsprache erst im 3. Schuljahr zwingend angeboten werden, ein Beginn in Klasse 1 ist aber gesellschaftlich erwünscht und kommt auch immer häufiger vor. Es gibt sogar Schulen, die einen "englischen Zug" führen. Der setzt voraus, daß die Kinder schon im Kindergarten Englisch lernten.
Ob ab Klasse 3 die jeweils andere Landessprache angeboten wird oder Englisch, oder ob eine der schweren Sprachen: Deutsch, Französisch oder Russisch, das entscheidet jede Schule selbst, natürlich unter Berücksichtigung der Nachfrage, und mehrzügige Schulen stellen in den Parallelklassen verschiedene Wege zur Wahl. Seit einigen Jahren fördert der Staat die drei letztgenannten Sprachen mit Nachdruck, weil sie vorher so wenig gewählt wurden, daß der gesellschaftliche Bedarf nicht gedeckt werden konnte. Weitere Fremdsprachenangebote gibt es je nach Interesse der Schüler und Ressourcen der Schule. Spanisch und Italienisch kommen öfter vor. Exotisches wie etwa Japanisch ist die Ausnahme.
Wie man sich vorstellen kann, wird kein Elternpaar einem sprachlich nicht sonderlich begabten Kind ab Klasse 3 eine so schwere Sprache wie z. B. Deutsch zumuten, wenn doch auch Leichteres zu haben ist. Im übrigen gibt es natürlich auch Schulen mit z. B. mathematisch-naturwissenschaftlichem oder musischem Profil, ja sogar mit Sportprofil. Die Verteilung der Schüler auf die derart unterschiedlichen Schulen regelt sich durch die freie Schulwahl, und die folgt natürlich dem Profil.
Dies genügt wohl, um deutlich zu machen: Das System fungiert nach dem Motto "Laßt 1000 Blumen blühen". Rein als solches taugt es wohl kaum als Erklärung des finnischen PISA-Erfolges. Und in einem Land wie Deutschland, ohne Zentralabitur, aber mit 80 statt 5 Mill. Einwohnern, liefe es wahrscheinlich auch schnell aus dem Ruder. Im übrigen würde jeder Versuch, es zu kopieren, allein schon am deutschen Beamtenrecht und der GEW scheitern. Das System funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß Lehrkräfte nach Bedarf eingestellt und entlassen werden können.
Die zweite Erklärung, die in der deutschen Presse breiten Raum eingenommen hat, lautet: Finnische Lehrkräfte geben eben besseren Unterricht.
Dem ist nicht so. Es gibt in Finnland wie überall sowohl sehr gute als auch weniger gute Lehrkräfte. Aber daß die finnischen Lehrkräfte im Durchschnitt professioneller arbeiteten als ihre deutschen Kollegen, ist barer Unsinn. Die Kunde von den Reinkarnationen Pestalozzis, die nördlich der Ostsee im Fleische wandeln und wirken, wo immer das Wort SCHULE über einem Portal prangt, hat sich vermutlich dadurch verbreitet, daß die OPETUSHALLITUS, wenn ausländische Besucher finnische Schulen von innen sehen wollen, solche Gäste selbstverständlich nicht in irgendeine beliebige Schule schickt, sondern dorthin, wo sie das zu sehen kriegen, was sie erwarten: Modernste, höchst eindrucksvolle Schularchitektur und -ausstattung sowie ausgewählte, von exzellenten Lehrkräften geführte Klassen. Aber was sich da eigentlich abspielt, kriegen die ausländischen Hospitanten natürlich nur zu einem Teil mit: Finnisch können sie alle nicht.
Ich selbst besorge mir meine Hospitationen nicht über irgendeine offizielle Instanz, sondern über private Kanäle, und so sehe ich dann auch nicht die pädagogischen Zugspitzen, sondern den ganz gewöhnlichen Schulalltag. Und der ist auch in Finnland nicht von Glanz und Spannung erfüllt. Die Methodik ist schon anders als hierzulande, darum aber nicht unbedingt besser. Was verbessert werden muß, sind die institutionellen Bedingungen, unter denen Lehrkräfte hierzulande arbeiten. Solange die so bleiben, wie sie sind, wird keine Lehrerfortbildung dazu führen, daß die deutschen Schüler international konkurrenzfähig werden.
B. Gründe des finnischen Erfolges
Im folgenden beschränke ich mich aus Platzgründen weitgehend auf den Aspekt "Lesen".
Warum können finnische Jugendliche so viel besser lesen als deutsche, wenn doch finnische Lehrkräfte nicht besseren Unterricht geben als die hiesigen?
- Dank bestimmter soziokultureller Bedingungen, die es anderswo so nicht gibt, und
- Dank bestimmter innerschulischer Faktoren.
a. Sozio-kulturelle Faktoren
1. Finnland hat lange, kalte und dunkle Winter und darum von Alters her eine Lesetradition, für die südlich der Ostsee keine Entsprechung existiert. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Analphabetenrate Finnlands die niedrigste der Welt, 3,8 %. Es wird einfach sehr viel mehr gelesen als in Deutschland. Der hohe gesellschaftliche Stellenwert des Lesens färbt auf die Wahrnehmung von Kindern ab und trägt zu ihrer Motivation bei.
2. Finnisch liest sich unvergleichlich viel leichter als Deutsch, denn die Orthographie ist vollkommen phonetisch. Daß da s-i-e-b steht, man aber "siip" lesen muß. kommt nicht vor. Jedem Laut entspricht ein und nur ein Buchstabe. Niemals kann ein- und derselbe Buchstabe einmal diesen, einmal jenen Laut bezeichnen wie im Deutschen (Vase - Vater). Einen 15jährigen Schüler, der viel liest, stört die deutsche Orthographie natürlich nicht mehr, sehr wohl aber dürfte sie bei der Leseleistung jener Probanden eine Rolle spielen, die die PISA-Studie als "Risikogruppe" bezeichnet.
3. Ausländische Fernsehbeiträge und Kinofilme werden nicht synchronisiert, sondern untertitelt. Gerade diejenigen, die am wenigsten Bücher lesen, aber am meisten vor dem Fernseher sitzen, absolvieren also ein tägliches Training schnellen, sinnerfassenden Lesens. Da sie das freiwillig tun - sie wollen ja fernsehen! - ist der Effekt erheblich.
4. Die Ausländerquote liegt in Finnland bei knapp 2 %; im Binnenland gibt es in den Schulen praktisch keine Kinder ausländischer Muttersprache. Außerdem wird jedem Kind, das aus dem Ausland kommt, von Staats wegen eine Landessprache beigebracht, ehe es in eine normale Klasse gesetzt wird. Schüler, die dem Unterricht aus sprachlichen Gründen nicht folgen können, gibt es also nirgends.
b. Schulische Faktoren
1. Die durchschnittliche Klassenfrequenz beträgt in Finnland 19,5 - in Deutschland 24,1.
(Anmerkung der Landeselternschaft: In Nordrhein-Westfalen beträgt der Klassenfrequenzrichtwert für die Jahrgangsstufen 5-10 des Gymnasiums 28 Schüler.)
2. Es gibt keinen nennenswerten Unterrichtsausfall. Jeder Schulträger hat eine "Vertretungsreserve": Voll ausgebildete Lehrkräfte, die sofort einspringen, wenn eine Lehrkraft erkrankt. Dies schlägt besonders in Bezug auf die schwächeren Schüler zu Buche, denn sie sind es ja, die durch Unterrichtsausfall besonders benachteiligt werden.
3. Der entscheidende Faktor ist das Fördersystem. Innerhalb der Regelschule fängt es die schwachen Schüler auf. Jeweils für drei Klassen, 1-3, 4-6 und 7-9 gibt es in jeder voll ausgebauten Schule eine "Speziallehrerin"; ist die Schule zweizügig, sind es je zwei usw. Sie ist voll ausgebildete Klassenlehrerin und hat eine Sonderausbildung oben drauf. Stellt die Klassenlehrerin fest, daß ein Kind überfordert ist, informiert sie die Spezialkollegin und spricht mit ihr sehr genau ab, in welchen Stunden das Kind aus dem Klassenunterricht herausgenommen wird, um seine eigenen Mathematikstunden (oder was auch immer) im Einzelunterricht zu bekommen, bis es wieder den Anschluß hat. Sein Stundenplan darf sich dadurch nicht verändern. Während das Förderkind abwesend ist, darf die Klassenlehrerin mit den anderen natürlich nichts Neues durchnehmen, sondern nur Bekanntes üben, sonst wären ja neue Lücken vorprogrammiert.
Dem Speziallehrer steht ein eigener, anheimelnder Raum zur Verfügung; die Kinder gehen gern zu ihm.
Dieses Fördersystem erfaßt pro Jahr 16 - 17 % aller Schüler, und die OPETUSHALLITUS beklagt, daß die finanziellen Ressourcen diesen Prozentsatz begrenzen. Er deckt den Bedarf nicht. Wenn man bedenkt, daß in Deutschland nur rund 4 % der Schüler die Sonderschule besuchen und den restlichen schwachen Schülern - nach finnischen Maßstäben also mindestens 13 %! - keinerlei besondere didaktische Fürsorge zu Teil wird, braucht man sich über die Größe der von PISA ausgemachten "Risikogruppe" (über 20 %!) nicht zu wundern. Keine finnische Klassenlehrerin begreift, daß von ihrer deutschen Kollegin erwartet wird, dem Problem schlicht durch "Binnendifferenzierung" beizukommen. Daß das im Rahmen des Klassenverbandes, noch dazu ohne Spezialkompetenz in Diagnostik und Methodik(!), nicht geht, versteht sich in Finnland von selbst.
Wenn schwache Schüler sofort erfaßt und einzeln zielgenau unterrichtet werden, brauchen sie auch im schlimmsten Fall - d. h. wenn sie solche Hilfe im Lauf des Schuljahres mehrfach und in verschiedenen Fächern benötigen - nicht ein ganzes Jahr länger in der Schule herumzuhängen. Sitzenbleiben ist unökonomisch.
Prinzipiell könnte man dieses Fördersystem in Deutschland einführen, ohne das gesamte Schulsystem umzubauen. An einzelnen Versuchsschulen wäre es sogar relativ schnell zu machen, und der Erfolg ließe sich auch binnen weniger Jahre schon messen. Was fehlt, ist der politische Wille zu solchen Maßnahmen. Den Lehrkräften den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist bequemer und billiger.
Aber es bringt nichts. Wenn Deutschland in Sachen Bildung international aufholen will, muß es
- allen Immigrantenkindern Deutsch beibringen und
- allen schwachen Schülern systematisch helfen, und das zu allererst dort, wo die Fundamente für den künftigen Bildungsgang gelegt werden: in der Grundschule.
Alles andere ist Augenwischerei.
Literatur:
Thelma von Freymann, Schule an der europäischen Peripherie - Bildungs- und Sprachenpolitik in Finnland, in: Zeitschrift für internationale erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung 1998/1, S. 121 - 143. Dieser Beitrag stellt nicht nur das Schulsystem als solches dar, sondern auch seinen demographischen, historischen und kulturellen Hintergrund.
Thelma von Freymann
Sie wurde 1932 in Helsinki, Finnland, geboren. Ihre Schulzeit verteilte sich auf Finnland, Schweden, Deutschland und die Schweiz. 1961-1965 unterrichtete sie als Studienassessorin an der St.-Ursula-Schule in Hannover. 1975-1995 gehörte sie dem Lehrkörper der Universität Hildesheim (Institut für Angewandte Erziehungswissenschaft und Allgemeine Didaktik) an. 1995 wurde sie als Akademische Oberrätin pensioniert.
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