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Aus: Deutsch-Finnische Rundschau, September 2003
Öffentliche Bibliotheken in Finnland
Thelma von Freymann

 
Seit PISA das allgemeine Interesse an Finnland angefacht hat, sind hierzulande zahlreiche Artikel erschienen, die die finnischen Ergebnisse zu erklären suchen. Pirjo Linnakylä, Mitglied der finnischen PISA-Forschungsgruppe an der Universität Jyväskylä, sagte mir: „Alle deutschen Autoren reden von der Schule, aber keiner von den Bibliotheken. Dabei sind die von fundamentaler Bedeutung für die finnische Lesekultur.“ Diesem Mangel soll hier abgeholfen werden!

Frau Linnakyläs Rat folgend begab ich mich in die Stadtbibliothek von Jyväskylä. Diese Stadt, das muss man vorweg erwähnen, ist gut mit z. B. Hildesheim vergleichbar. Sie hat 80 000 Einwohner (Hildesheim knapp 100 000), und in beiden Städten gibt es eine Universität, die u. a. Lehrer ausbildet. Die Hildesheimer Stadtbibliothek – die selbstverständlich nicht mit der Universitätsbibliothek konkurriert – hat eine Nutzfläche (ohne Magazine) von rund 1000 qm und ist für deutsche Verhältnisse sehr ordentlich ausgestattet.

Die Stadtbibliothek von Jyväskylä wurde vor 25 Jahren erbaut. Sie ist mehr als acht Mal so groß wie die von Hildesheim. Ihre Nutzfläche beträgt 8536 qm (ohne Magazine). Schon das Gebäude als solches ist eine Sehenswürdigkeit: großzügig, funktional und ästhetisch reizvoll.

 
In Deutschland ist eine Stadtbibliothek ein Ort, an dem man Bücher ausleiht. In Finnland ist sie ein Ort, an dem man sich aufhält, und zwar stundenlang. Es gibt bequeme Sessel, es gibt Arbeitsplätze an Tischen, es gibt die Möglichkeit, Musikkassetten zu hören usw. usw. Und überall herrscht Ruhe. Arbeitsruhe. Dabei verbringen Kinder, deren Schultag vor dem Arbeitstag ihrer Eltern endet, die Zeit bis zu deren Heimkehr oft in der Bibliothek. (Dies ist übrigens einer der Gründe für die allgemeine Empörung, die immer dann ausbricht, wenn Stadtverwaltungen sparen wollen, indem sie die Öffnungszeiten von Bibliotheken einschränken.)

Ich habe mich an zwei Nachmittagen in der Stadtbibliothek von Jyväskylä aufgehalten und das Publikum beobachtet. Mit Ausnahme des Märchenerzählraumes, des Musikübungsraumes und des Computerunterrichtsraumes (in dem kostenlose Einführungen in den Gebrauch von Computern stattfinden ) ist er gesamte Besucherbereich offen: Er hat keine Zwischenwände. Benähme sich irgendwo jemand unpassend und machte Lärm, könnte niemand arbeiten. Aber hier ist niemand laut. Jeder weiß, was sich im Reich der Bücher gehört.

Auch die Kinder. Es gibt ihrer viele, und ich staune über sie. Man könnte hier ganz toll Verstecken oder Kriegen spielen! Das versucht aber niemand. Kein einziges Kind zieht sich eine Ermahnung zu. Ich beobachte ein sehr kleines, eines von etlichen. Es geht an ein Regal, das Bücher für die Kleinsten enthält, sucht sich eines aus, nimmt es mit und legt es auf einen Kindertisch. Auf der Kinderbank sitzt, sichtlich unbequem, ein ältere Frau. Sie nimmt ihm das Buch nicht ab, fängt nicht an, ihm zu erklären. Sie ist nur da. Während das Kind sein Buch anschaut, spreche ich sie an. Leise!!! Wie alt ist das Kind? Zwei Jahre. ZWEI JAHRE! Sie ist die Großmutter. „Wir kommen oft hierher, das gehört zu unserem Leben.“ Ich habe den Eindruck, dass es eine ziemlich einfache Frau ist. Was wahrscheinlich stimmt: Bildungsbürger können Bücher für ihre Sprösslinge kaufen. Die Bibliothek ist in erster Linie für diejenigen da, die sich das nicht leisten können. Gute Bilderbücher sind teuer.

Hinterher frage ich eine Bibliothekarin nach den Kosten dieser Kinderabteilung. Wie viel höher als bei Erwachsenen ist die "Umschlagrate"? – Wieso höher? – Nun, kleine Kinder machen doch wohl mehr kaputt als Erwachsene, es kommt gewiss vor, dass sie z. B. Seiten ausreißen, und dann muss ja das Buch ersetzt werden? – Die Bibliothekarin sieht mich an, als wäre ich vom Mond gefallen. Wie komme ich darauf, dass Kinder Bücher kaputtmachten?? Das tun sie nicht. Warum sollten sie?!

Mir wird klar: Wer an den Umgang mit Büchern herangeführt wird, kaum dass er allein auf seinen Beinchen gehen kann und erfährt, dass Bücher etwas Schönes sind, an dem man sich freut und andere auch, der macht sie nicht kaputt.

Bibliotheken gelten als Teil des Bildungswesens. Darum ressortieren sie im Unterrichtsministerium. Es gehört zum Programm der Kindergärten und Vorschuleinrichtungen, dass man schon mit den Kleinen regelmäßig in die Bibliothek geht oder, wenn die zu weit entfernt ist, zum Bibliotheksbus. Der steht einmal die Woche vor jedem Kindergarten, jeder Schule, sofern die nicht in direkter Nachbarschaft der Bibliothek liegt. Bibliotheksangestellte gehen in die Schulen und stellen Bücher in den Klassen vor, jeweils altersangemessen natürlich. Die Personalausstattung der Bibliotheken geht von dem Bedarf aus, der sich durch enge Kooperation mit den Schulen ergibt. Allerdings werden auch in Finnland die finanziellen Ressourcen knapper, und die Städte fangen an, bei den Bibliotheken zu sparen. Dennoch herrschen in diesen im Vergleich zu den hiesigen nach wie vor geradezu paradiesische Zustände.

Die erste öffentliche Leihbibliothek in Finnland wurde 1794 in Wasa gegründet, 1875 gab es davon rund 300 und 1905 rund 1500. In Helsinki lohnt sich die Besichtigung der Stadtteilbibliothek von Berghåll: Ein architektonisches Juwel aus dem Jahre 1912. Berghåll (heutzutage auf Finnisch Kallio genannt) ist eine Kleinbürger- und Arbeitergegend „jenseits der Langen Brücke“, was damals in Helsinki etwa dasselbe hieß wie in deutschen Städten „hinter den Bahngleisen“. Schon vor dem Ersten Weltkrieg also stellte die Stadt Helsingfors (damals noch nicht „Helsinki“ genannt) für ihre Arbeiter eine Bibliothek hin, die in deutschen Städten noch heute ihresgleichen sucht (von Universitätsbibliotheken natürlich abgesehen). Und wer nach Åland kommt, versäume nicht, die Bibliothek von Mariehamn zu besuchen! Angesichts von 25 000 Einwohnern der gesamten Insel eine schlechterdings unglaubliche Einrichtung.

Schöne, großzügige, funktionale Bibliotheken gibt es in Finnland landauf landab. Sie zählen knapp 64 Millionen Besucher pro Jahr. Welchen statistischen Durchschnitt pro Person ergibt das bei einer Gesamtbevölkerung von gut 5 Millionen? Aber der besagte nicht viel, denn Säuglinge und Greise wären ja mitgezählt ... Die jährliche Ausleihrate der öffentlichen Bibliotheken ist mit 19,9 pro Kopf der Bevölkerung die weltweit höchste. (Zum Vergleich: Dänemark 13,55, Schweden 9)

Keine Frage: Es sind nicht nur die Schulen, die dafür sorgen, dass finnische Jugendliche die besten Leser der Welt sind. Auch den Bibliotheken steht da ein Lorbeerkranz zu. Sie sind für die Bevölkerung Finnlands wirklich das, was sie sein sollen: nämlich „die Wohnstube der Gemeinde“, wie die zuständige Referentin im Unterrichtsministerium den Grundsatz finnischer Bibliotheksarbeit beschrieb.

Quellennachweis: Alle statistischen Daten aus Barbro Wigell-Ryynänen, councellor for library affairs, Finnish ministry of Education: Finland, in: Nordic Public Libraries – The Nordic cultural sphere and its public libraries, S. 26 – 28.

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